das Genug festlegen

Diesen Text habe ich deutlich vor Corona geschrieben und den halbherzigen und ineffektiven Rettungsmaßnahmen, die dazu führen, dass viele Selbständige nicht mal annähernd genug verdienen. Ich lasse ihn trotzdem stehen, denn es gibt nach wie vor eine Menge von Selbständigen, die Geld verdienen und darum ringen, zu spüren, wann es für sie reicht und passt. Für sie ist dieser Text, für alle gilt: Es ist nicht deine Schuld. Das hier ist eine Erinnerung für Selbständige, dass es gesund für uns und unsere Umwelt ist, wenn wir rechtzeitig einen Punkt von „genug“ finden.

Ein klares und eindeutiges Gefühl von: Ich habe genug und bin genug.

Um diesen Punkt zu finden, hilft es, ihn vorher zu bestimmen. Und zwar ganz konkret auch im Finanziellen. Selbst in einer Phase, in der Überleben das einzige Ziel ist, ist es wichtig, dass du einen weichen Behälter hast, in den du hinein arbeitest.

Sich also nicht auf wucherndes Endlos-Wachstum einzustellen und das als schwammige Erfolgskarotte vor sich hin zu hängen, sondern in den frühen Phasen der Selbständigkeit für sich zu definieren: Mit meiner jetzigen Lebenssituation, mit meinen aktuellen Ausgaben, brauche ich Summe X, um klar zu kommen, und Summe Y, um mich sicher und gut zu fühlen.

Und wenn du diese Summe Y erreicht hast, kannst du dich daran erinnern, dass du dich sicher und gut fühlen darfst. Kannst dir erlauben, durchzuatmen und dich reich zu fühlen.

Dann kannst du dich entscheiden: Willst du weiterscheffeln, und wenn ja, wofür? Oder willst du deine Arbeit nach und nach so umstrukturieren, dass du statt mehr Geld mehr Zeit für die Kunst oder deine Familie oder den Garten oder einfach zum Nichtstun verdienst?

Was ja völlig logisch klingt, und trotzdem vielen von uns nicht einfällt. So sehr werden wir im Online-Business-Bereich über Facebook-Werbungen und Instagram und Newsletter bombardiert mit Kursen und Workshops, die uns zu Millionär:innen machen sollen, die uns vorgaukeln, dass Monate, in denen du mehrere Zehntausend Euros verdienst, völlig normal seien.

Dieser Abschnitt ist angelehnt an diesen Patchwork-Artikel von 2018Ich hatte eine Phase, in der mich diese „endlich sechsstellig verdienen“ Versprechen sehr angezogen haben. Es ist ja möglich, man sieht es doch bei den anderen, warum sollte das dann nicht auch bei mir klappen? Online-Produkte habe ich ja schon. Würde ich damit nicht total meine Eltern beeindrucken? Wie cool wäre das denn, sich wirklich einfach so das Meiste kaufen zu können, wie einfach wäre das Leben dann?

Eine Ergänzung von 2021: Natürlich kann ich mir mit mehr Geld mehr Zeit und Ruhe kaufen, und durch meinen Umzug von München nach Leipzig kann ich mir deutlich mehr Zeit mit meinem Geld kaufen als früher, da die Lebenshaltungskosten hier niedriger sind. Gleichzeitig ist meine Erfahrung, dass manche von uns (ich auf jeden Fall eine ganze Zeit lang) tendenziell überschätzen, wie viel Geld wir brauchen, um uns Zeit nehmen zu können für das, was uns wichtig ist, und dass wir oft nicht genau verstehen, was uns eigentlich fehlt, um Ruhe in uns zu spüren.Bis ich irgendwann deutlicher in mich hineingehorcht habe, was ich denn wirklich will. Da wurde mir klar: Ich will mehr inhaltlich erreichen, nicht finanziell. Ich will künstlerisch arbeiten, und politisch, und ich will mehr Zeit und Ruhe, ich will Zeitreichtum. Aber nicht mehr Geld um des Geldes willen.

Später bekam ich eine Mail von einem befreundeten Web-Designer, der mir von einem „Erfolgskongress“ für Selbständige berichtete, auf dem er war, und der ihn mit einem „seelischen KO“ hinterlassen hat. Er schrieb: „Den größten Nutzen hatten meiner Wahrnehmung nach die Redner, die große Coaching-Programme verkauften. Jede Verkaufs-Botschaft saß brilliant, die Teilnehmer liefen zu Hunderten an die Tische und gaben ihr nicht vorhandenes Geld aus. (…) Mein Gefühl war, dass das Publikum finanziell grandios verliert. Denn auf der Bühne war ständig ein Gefühl bzw. Glaubenssatz präsent, zumindest für mich: "Ich bin nicht genug. Ich will mehr.“ Mich hat das total verwirrt, denn auf der Bühne standen sehr erfolgreiche Menschen. Die aber offensichtlich nicht genug hatten.“ Diese Gier darf nicht die Norm sein in der Industrie der Online-Selbständigen – und sie ist es meiner Erfahrung nach auch nicht. Wir sind bloß nicht so laut.Und sechsstellig verdienen, ohne richtig Zeit und Energie zu investieren, ohne eine gewisse Gier und Unruhe in sich zu kultivieren: that’s not happening.

Das war für mich, nach einem Jahrzehnt Selbständigkeit, eine Erlösung. Ich muss nicht dauernd rasen, dauernd verkaufen, mich dauernd optimieren, noch mehr Geld machen und noch mehr Kund:innen anlachen.

Ich darf meine eigenen Regeln formulieren und nach ihnen leben. Ich muss das sogar, denn das empfinde ich als Teil meiner Verantwortung als Selbständige.

Deshalb will ich eine andere Norm sichtbar machen, einen anderen Verhaltenskodex veröffentlichen. Einen Kodex für ein ethisch korrektes und freudeförderndes Unternehmen, für eine ehrliche und ehrbare Selbständigkeit.

Ich glaube daran, dass wir mit der Art und Weise, wie wir arbeiten, die Werte, die uns wichtig sind, mit Leben füllen.

Und ich glaube daran, dass wir uns mit unseren gelebten Werten gegen den ganzen Quatsch polstern, von dem so viele selbsternannte „Expert:innen“ behaupten, dass wir ihn brauchen.

Also auch:

Danke, ich brauche keine Social Media Strategie – ich habe schon einen Weg gefunden, mit den Menschen zu kommunizieren, die mir wichtig sind.

Danke, ich brauche keine Statistiken – ich bekomme genug Antworten, um zu spüren, dass meine Mails tatsächlich ankommen.

Danke, ich brauche keinen Sales Funnel – ich verkaufe genug, dass ich davon leben kann und dass ich meinen Leuten weiterhin helfen kann.

Danke, ich brauche keine autopersonalisierten Landing Pages – meine Texte sind persönlich und berührend genug.

Danke, ich brauche deine Vorschläge für getestete und erfolgreiche E-Mail-Betreffzeilen nicht – meine Briefe wollen von genug Menschen gelesen werden. Weil es immer genug sind.

Danke, ich hab schon.