Jagd

birds-of-prey-weiss.jpgZu Beginn des dritten Pandemie-Jahres überlege ich, den Jagdschein zu machen. Nicht, weil die Jagd als solche mich fasziniert, sondern weil mich Greifvögel faszinieren, seitdem ich ein kleines Kind bin (noch als Teenager war das einzige Poster in meinem Zimmer ein Plakat von Greifvögeln, erst später ergänzt durch eins von Jean-Luc Picard) und weil ich die Falkner:innen Ausbildung machen möchte, und zur Ausübung der Beizjagd benötigt man in Deutschland wiederum einen Jagdschein.

Das stellt mich vor Herausforderungen, praktischen (die Jagdscheinprüfung ist herausfordernd und benötigt extrem viel Zeit und Geld in der Vorbereitung), sozialen (wem werde ich in diesem Prozess begegnen und werde ich mich mit ihnen sicher fühlen?) und auch moralischen. Ich begegne diesen Herausforderungen, indem ich lese.

Das hier sind meine Notizen und Gedanken zu diesem kleinen selbstgewählten Vorabstudium, in dem ich versuche, diesem auch in mir umstrittenem Thema so zu begegnen, wie ich vielschichtigen Themen (also allen Themen) begegnen möchte: mit weitem, nicht-binärem Blick, nicht voreingenommen, unter Einbezug von indigenen Blickwinkeln und den Argumenten und Überlegungen von sowohl Gegner:innen als auch Menschen, die zutiefst vom Jagen überzeugt sind, vor allem aber von denen, die es tun oder nicht tun und jeweils gleichzeitig ihre Zweifel benennen und betrachten können.

Zu welchem Entschluss ich kommen werde, ist mir selber noch nicht klar.

Ein hervorragender Einstieg in das Thema ist der Artikel „Wider die Natur? Bemerkungen zur Jagd“ von Gesine Krüger. Sie macht darin ein großes Feld auf, von mordlustigen Trophäenjäger:innen über die Ansätze der Ökojagd über Zweifel an der Hege von Wild bis hin zu mordlustigen Tierrechtler:innen.

Sie skizziert darin Fragen, die mir in meinem mäanderndem Lesen zu diesen Themen immer wieder begegnen: Wie ist das menschliche Verhältnis zu Tieren, und zur Natur insgesamt, entstanden? Wie hat es sich verändert? Wie hat es uns Menschen verändert? Auf welche Basis legen wir unsere (moralischen) Entscheidungen, um sie zu rechtfertigen?

– Gesine Krüger in Wider die Natur? Bemerkungen zur Jagd

Die Jagd ist nichts “Natürliches“, sondern eine mit Ritualen verbundene, uralte Kulturtechnik, die sich bis heute stetig gewandelt hat. Es ist die Jagd selbst, die einem kulturellen Prinzip der Veränderung unterliegt. … Viel wichtiger als das Aufspüren eines angeblich in der Evolution des Menschen entstanden „Jagdtriebes“ ist daher ein Verständnis der „Kultur“ der Mensch-Tier-Beziehung, nicht zuletzt bei der Jagd.

Was mich im Moment an der Idee, den Jagdschein zu machen, reizt, ist (neben dem Zurückkreiseln zu einer sehr alten Sehnsucht in mir, siehe oben) dass es ein weiteres Lebenshandwerk ist und (später, also nach erfolgreicher Prüfung) Zeit draußen bedeuten kann, stille, langsame Zeit draußen, und ein ehrlicherer Umgang mit Fleisch und seiner Herkunft und dem Tod des Tieres.

Das kann ich alles schreiben, aber wirklich weiß ich noch nicht, was mich da hinzieht, was ich suche, ob ich das wirklich will, wie es wirklich wäre. Es wären neue Widersprüche, die ich in mir halten müsste. Es wäre ein Schärfen meiner Augen, meines Blicks in die Welt, ich würde so viel lernen über den Wald und das Wild und seine Lebensweisen. Ich weiß nur nicht, ob ich jemals wirklich auf ein Tier schießen will.

Vor allem reizt mich, dass es sich anfühlt, als wäre die Jagd eine aktivere Begegnung der Welt, als ich sie bisher lebe. Weil sofort die Frage nach der Verantwortung auftaucht: Wie kann ich es potenziell verantworten, einem anderen Tier das Leben zu nehmen? Was für eine Verortung in der Welt braucht es dafür?

Hin und wieder bin ich in eine Kanzel gestiegen, um zu sehen, wie es ist. Doch nie blieb ich lange, ich kletterte einfach, ehe ich es recht wusste, die Leiter wieder hinab. Gelegentlich mache ich es noch, wenn ich spazierengehe, in eine Kanzel steigen, um einen besseren Blick auf das Wild zu haben. Doch nie bleibe ich solange wie mit dem Gewehr. Offenbar muss ich auf Jagd sein, muss es eine Chance geben, dass etwas passiert. Es muss einen anderen Zweck geben, als zu träumen, die Natur zu genießen oder zu mir selbst zu kommen. Es reicht mir nicht, in einer Kulisse zu sitzen, mit einem Wildfoto nach Hause zu kommen oder mit einem geläuterten Gefühl. Ich will die Landschaft berühren, etwas darin verändern, darin heimisch sein. Erst dann gehe ich im Moment auf und vergesse die Zeit. Ja, das ist es, wenn ich jage, gehöre ich dort hin, dann ist das mein Biotop. Das ist die Läuterung, die ich suche. Ich, ein Tier in der Nähe von anderen Tieren, genauso wie die anderen Tiere, eines mit Blut an den Händen und mit Lust auf Fleisch.“ – Pauline de Bok in BeuteWarum erscheint mir die Jagd gerade als eine der wenigen, oder als die attraktivste, Art und Weise, mehr Zeit in der Natur zu verbringen, von ihr Teil zu werden und wirklich über sie zu lernen? Selber aktiv zu sein draußen? Warum will ich nicht passiv sein draußen? Warum kann ich nicht ohne eine Schulung und eine Prüfung und eventuell befremdliche Brauchtümer lernen, welcher Baum welcher ist und welches Wild sich wie verhält? Warum setze ich mich nicht einfach so raus, und beobachte, und zeichne, und gestalte auf meine bisherige Art mit? Warum gehe ich nicht einfach weiter wandern?

Die Fragen nach dem aktiven eigenen Töten eines Tieres, ob ich dazu bereit wäre und wenn ja, auf welche Art, sind Fragen nach meiner gesamten Vorstellung davon, wie und was „Natur“ ist, wie und was „wild“ ist, welche Rolle ich darin spiele, welche Rolle Menschen allgemein darin spielen und welche Rolle ich glaube, dass sie spielen dürfen.

Es stellt auf eine andere Art Fragen, die ich mir ohnehin schon stelle: Gehöre ich dazu? Wie sehr darf ich teilnehmen? Was darf ich gestalten, wie viel Einfluss darf ich nehmen, über wessen Leben darf ich richten? Wann nehme ich Schuld auf mich?

Es braucht – so vermute ich – viel Selbstbewusstsein, und eine Form von innerer Sicherheit, um zu jagen. Denn das kann ich dann nicht mehr zurücknehmen, ich kann kein Leben geben, wenn ich Tod gegeben habe. Das ist eine Verantwortung, die ich so nicht kenne.

If the intention is not to leave but to enter, not to hide but to belong, relationship with the non-human brings back deep value to human community and enriches culture.“ – So Sinopoulos-Lloyd in Tracking as a Way of KnowingIn meiner Suche nach Antworten, oder nach den richtigen Fragen, stoße ich auf das Projekt Queer Nature, stoße auf die darin verwebten Fäden zum Spuren lesen und zu Camouflage als Drag, als die Kunst, in der Natur aufzugehen.

Die Welt lesen lernen, was kein Lesen ist, ist ein Eingang in diesen uralten Dachsbau.

Die Vorstellung, sich bewusst in der Natur unsichtbar zu machen, um eine Weile dazu zu gehören, ein weiterer.

Ich finde auffallend viele Bücher von Frauen zur Jagd, oder die erzählerischen Bücher, die mich im ersten Moment interessieren, sind von Frauen geschrieben. Was vermutlich kein Zufall ist, sondern ich suche wahrscheinlich den Blick von Außenseiter:innen, von Menschen, die nicht in dem Bewusstsein aufgewachsen und sozialisiert worden sind, dass es ihr Grundrecht und eine Selbstverständlichkeit ist, jagen zu gehen. Menschen, die diese Entscheidung und diese Verantwortung verarbeiten müssen.

Das Buch „Beute“ von Pauline de Bok beginnt heftig, als ob es einen Pfahl einschlagen müsse, um zu zeigen, wo wir hier sind und auf was wir uns als Lesende einlassen. Worüber ich stolperte, weil es wie eine überdramatisierte Lektorats-Entscheidung wirkte, aber im weiteren Verlauf des Buches wird mir klar, dass es nicht nur das war, sondern ein Ereignis, dass de Bok nachhaltig beschäftigt und formt. Auf den ersten Seiten schießt die Erzählerin ein junges Wildschwein, um dann festzustellen, dass die Sau bereits „beschlagen“ war und vier graue Frischlinge enthielt – was ein Jagdfehler ist, und der Jäger, der dazu kommt, raunt ihr zu, dass sie darüber besser nicht sprechen sollte. Dann das Aufbrechen im Detail, der Kampf mit dieser Menge an Tier. Da muss ich schlucken, und das ist gut so, das ist die Art von Bericht, die ich gerade lesen muss, pragmatisch und real und nicht romantisierend.

Es schält sich für mich heraus, dass ich mit diesen mir unbekannten Themen, diesem drastischen, klaren, sehr angewandten Umgang mit dem Tod, in der Theorie kein Problem hätte, solange ich genau wüsste, warum ich das mache. Freizeitvergnügen als Begründung reicht mir auf keinen Fall, das ist absurd, auch nicht mein Wunsch, öfter draußen zu sein. Waldmanagement, Schadensbegrenzung, Naturschutz – das muss ich erst besser verstehen, wie das gedacht ist und umgesetzt wird, und ob ich dem wirklich folgen kann. Den meisten modernen und staatlich regulierten Herangehensweisen im Umgang mit der Natur kann ich nicht folgen, warum sollte das also hier eine Ausnahme sein? Es bleibt der Gedanke des Essens, dass ich, wenn und da ich ja Fleisch esse, dieser Realität des Tötens von Tieren in die Augen schauen können muss.

Und in der Praxis ist das alles mit Sicherheit eh nochmal eine ganz andere Frage, vor allem bei meiner Geruchsempfindlichkeit.

Das Buch von de Bok bleibt sperrig und unbequem und hart, und fragt gleichzeitig weich und tief, sucht Antworten mit einer überraschenden Ehrlichkeit. Vielleicht, so schlägt es mir zwischen den Zeilen vor, wollen viele Menschen gerade Wildheit, aber eine da draußen, eine entfernt von ihnen, und sie können mit der Wildheit im Innern der Menschen (zu der auch der Jagdtrieb, oder sogar die Jagdfreude, gehört) nicht gut umgehen.

Vielleicht will ich doch einfach öfter in den Wald, um zu zeichnen. Aber ganz so einfach ist es nicht. Und ich ahne, dass ich so viel mehr (oder andere) Hintergründe, Rituale und Anleitungen suche, als ich sie in einer deutschen Jagdschule finden werde.

Ich lerne: Wir wissen so wenig. Mit all unserer Überwachungstechnik und all unseren vielen Köpfen wissen wir trotzdem nicht, wie viel Wild wo lebt, ob es ihm gut geht, was es von uns braucht, ob wir eingreifen sollten oder nicht. Wir versuchen uns im „managen“ von Wald, wir versuchen, unsere Ernten zu schützen, aber was genau das auslöst, wie das langfristig weitergeht, können wir nicht sagen. Aber schießen Satelliten in’s All.

Ich lese weiter von der Jagd und schwanke weiter heftig. Auch hier wäre ich Außenseiters, das wäre wieder Schule und, neben dem sehr wertvollen, auch eine Menge für mich unnützes Wissen, das fordert so viel Zeit und für was genau – ich weiß doch gar nicht, wie sich das eigentlich anfühlt oder was ich eigentlich darin suche.

Aber es bleibt das Gefühl, dass das zu meinem Erwachsen-Sein dazu gehört. Dass ich mich diesen Entscheidungen über Leben und Tod und diesem bewussten und näheren Umgang mit der Natur nähern will und muss. Es fühlt sich an wie eine Aufgabe. Wie etwas, das für mich dran ist und das ich lösen muss. (Noch kann ich nicht genau sagen, wie die Aufgabe lautet.)

Eine Freundin erinnert mich daran, dass ich schon vor zehn Jahren gesagt habe, ich würde am liebsten das Fleisch, was ich esse, selber er- und zerlegt haben wollen. Und dass sie das damals gut fand, sie, die noch nie in ihrem Leben Fleisch gegessen hat. Sie findet, dass die Welt Jäger:innen wie mich bräuchte.

Ich denke: Ich will jagen lernen. Was ich dann jage, weiß ich noch nicht. Ich will diese Sinne trainieren, ich will diesen Zustand kennenlernen. Ich will die Zeit und die Ruhe dafür haben.