GEDICHT Ich spüre ja auch eine Art Traurigkeit, oder etwas, was ich nicht orten kann, vielleicht mehr eine Rührung, eine Offenheit. Oder, wie oft, wenn ich mich traurig meine, eine Müdigkeit, mehr eine innere als eine äußere. Ich mache jetzt Pause, auf einer Bank, auf dem Weg zum Bahnhof. Ich habe dem Freundi Bonbons gekauft. Ich muss nichts gerade. Teilen will ich witzige Dinge, wie das mit dem Radio vielleicht, als ich an einer Baustelle vorbei lief und jemanden im Radio sagen hörte: Achtung auf der B14 Richtung Stendal, da liegt ein Sandkorn auf der linken Fahrbahn; oder Farben, Farbkombis in Kleidung, oder etwas, was spezifisch für Leipzig ist, ein Hier-ist-es-wie-nirgendwo. Nicht teilen will ich den Schmerz im unteren Rücken, den mir der Rucksack macht. Nicht teilen will ich meine Gedanken, die mit Sex zu tun haben, wen ich attraktiv finde, dass ich wirklich gern eine Affäre mit einer DHL-Fahrerin hätte, könnte auch Amazon sein, dass ich einen Menschen anschaue, den ich als Mann wahrnehme, und überlege, dass man seine Nasenlöcher vögeln könnte, und dass auch das seine Einwilligung bräuchte. Teilen könnte ich, dass ich keine Lust auf ein Eis hatte.

 

BERICHTDieser Brief hat einen kleinen Schnupfen und inzwischen eine große Müdigkeit und die Abende werden schon wieder so früh dunkel. Er ist deshalb klein, kleiner als die Fülle der Themen, die ihn eigentlich beschäftigen, und er kündigt außerdem noch seinen Urlaub an: zwei Wochen wird er verreist sein und deshalb nicht hier erscheinen, erst im Oktober geht es weiter, erstmal ist Pause.

Und trotzdem bringt er ein bisschen Fallobst mit im Beutel:

Das Freundi hat ein Interview mit einer Nobelpreisträgerin gehört, die erzählte, dass die Jahre vor dem Preis ihre besten Forschungsjahre gewesen seien, sie völlig glücklich mit ihrem Team, und dass sie danach nichts mehr zustande gebracht habe; immer wieder kommen wir in den nächsten Tagen darauf zu sprechen, immer wieder sprechen wir über die Außen- und die Innenwelten, über die Ablenkungen und die Freude, über das Alter und das Verbittern.

(Das wohl weiterhin mein einziges wirkliches Lebensziel: nicht bitter werden, nicht verbittern.)

Die lila-gelben Astern, die ich im Garten pflückte und als kleinen Strauß nach Hause trug, die so robust wirken, als ob nichts sie erschüttern könnte, die ich mit Wolkenhänden hielt.

Die Unmengen von Pfirsichen, wir lasen sie auf von um dem Baum herum, wir schüttelten ihn einmal leicht und sie kullerten hinunter, sie sind saftig und pelzig und klein und perfekt, und ich habe so viele von ihnen nun, dass ich ein Kompott koche, ein Gartenpfirsichkompott.

Und im See badete ich mit zwei Pferden, ja richtig genau, zwei großen ausgewachsenen echten Pferden, eins mit einem Mädchen oben drauf, das immer wieder an den Leinen zerrte, und das weiße Pferd schlug immer wieder mit der Hufe ins Wasser, dass es nur so spritzte und wog.

 

EXPERIMENTEDas Hauptexperiment in nächster Zeit: Pause machen.

 

FABRIK (Ein neu entstandener Schnipsel aus meinem Text mit dem Arbeitstitel „Die Fabrik“)J ist froh, dass sie in einem bestimmten Licht selbst in ihrer dunkeldunklen Zitrone immer noch den Mond darunter erkennen kann, Elli hatte so tief gestochen, dass eine kleine Vernarbung geblieben ist. Fuck Ali auch, denkt Jott plötzlich und erschrickt nicht darüber, Ali und ihren Willen Ali und ihre Schludrigkeit Ali und ihre vergessenen Bomben in der Küche, Jott macht nichts mehr einfach so mit, Jott macht jetzt nur noch ihr eigenes, macht alles zu ihrem eigenen, Jott arbeitet ihr Leben jetzt so um, dass es zu ihr gehört, dass es ihr gehört, zum ersten Mal in ihrem Leben hängt sie sich ein bestärkendes Post-It an den Badezimmerspiegel und versucht ihn jedes Mal abzunehmen, bevor Ali kommt, was schwierig ist, da Ali sich erst ankündigt, wenn sie den Schlüssel schon im Schloss stecken hat.

 

VERFLECHTUNGENDas Einhorn-Gedicht aus dem letzten Brief wird von Kira Linn und ihrem neuen Ensemble vertont werden, was ich extrem schön und aufregend finde – vor vielen Jahren hat Kira in Basel Texte von mir mit ihrem Saxophon begleitet und das war schon so eine Freude.

Die Premiere des Ensembles findet am 3. Oktober in Köln statt, mit lauter neuen Musikstücken, die alle von Texten weiblicher und nicht-binärer Autor:innen inspiriert wurden. Ich kann leider nicht persönlich vor Ort sein, aber es wird zum Glück einen Mitschnitt beim Deutschlandfunk geben :)

Das heutige Gedicht entstand beim Schreibspaziergang unserer Schreibwoche, der jedes Mal so eine Fülle an Eindrücken und Abdrücken mit sich bringt, dass unser Forum geradezu überquillt.