GEDICHT was werde ich nicht mehr
tolerieren und wem
sage ich das
BERICHT
Ein Bad, eine Rührung, ein Urlaubstag, ein Übergang:
Wie schön das ist, mit Salbei zu baden, selbst wenn ich ihn nicht riechen kann vor lauter Schnupfen, aber ich fühle ihn, diese dicken stoffigen Blätter, ich reibe sie, ich reibe mich mit ihnen ein und ab, ich befasse mich mit ihren gewellten Rändern, diese tadellosen runden Zacken, wie das Blatt zum Rand hin dicker wird, wie die Blätter perfekte kleine Waschlappen sind.
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Der die Leguane in der Tankstelle betrachtete, aufmerksam die beiden leicht unterschiedlichen, unterarmlangen Stofftiere musterte. Er legte seinen Kopf etwas schräg und dachte sichtbar nach.
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Noch ein zweites Ziel für das Alter, neben dem Versuch, nicht zu verbittern: nicht gedämpft werden. Also empfänglich bleiben, durchlässig bleiben, für Gefühle jeder Art aber vor allem für die Freude. Sage ich, denke ich, keine Ahnung, wie das umzusetzen ist, direkt und auf lange Sicht. Ich war ein bisschen leicht heute, wir haben schöne kleine Lachanfälle, das Freundi erinnert uns immer wieder daran, dass wir es doch schön haben, wie schön, wenn mir das jemand sagt, sonst sage ich das immer allen. Auch wenn wir beim Wandern keine Beschilderung finden, wenn der Weg uns völlig im Stich lässt, wir sprechen mit verschiedenen Einheimischen, die allerdings alle nicht wandern, sondern nur auf dem Berg wohnen oder arbeiten, sie beißen in ihre Wurst und schicken uns zu den Wipfeln, owi, aufi, sie würden sich gleich ein Cordon Bleu machen, man könne alle Wege nehmen. Wir machen fünf Minuten Rimini hinter dem Haus in den letzten Sonnenstrahlen, denn es gab ein bisschen Sonne heute, es gab einen sonnigen Nachmittag und ich muss das so aufsaugen gerade, ich habe so einen Sonnenbedarf, wir sitzen also einen Moment in der Sonne und lesen und die orangene Katze streicht uns um die Beine. Fast alle Katzen erinnern mich inzwischen an das Freundi, so auch diese hier, eine hübsche orangene roughe Katze mit grünen Augen und angeknabberten Ohren und dicken Zecken, sie will etwas von uns, vielleicht nur etwas Nähe, sie drückt sich an unsere Beine, wir sitzen eine Weile mit ihr und schließen beim Reingehen die Tür vor ihrer Nase, aber manchmal zischt sie auch von alleine davon, zu ihren anderen Katzenaufträgen. Das Buch ist gut, die Stelling, es kommt auch der Frederick drin vor, die sonnenaufsaugende Dichtermaus, von der ich die letzten Tage sprach. Das Wandern konnte ich nicht wirklich aufsaugen, ich hatte wenig Offenheit in mir, wenig Sensoren für den Wald, ich hoffe, dass er trotzdem auf mich eingewirkt hat. Die Stille war riesig und schön, als bei unserem Vesper einmal kurz die Motorsäge verstummte. Einige vermooste Wasserfälle mochte ich. Aber es rührt und rüttelt nicht mehr an mir, die Größe der Berge und die vielen Bäume, und die muhenden Kühe schon gar nicht. Der Himmel ja, die Wolken ja, der Mond ja, die Sonne sehr. Zuverlässig Freude macht mir das Schwimmen, das Gefühl danach in meinem Körper, darauf kann ich mich meist verlassen. Das Wandern schmerzt uns ein bisschen, aber wir machen es morgen nochmal. Stehen sogar mit Wecker auf, um früher los zu kommen. Heute morgen sah mich ein Reh an, von der Wiese, als ich aus dem Fenster schaute. Die Dusche war gut. Das Haus stinkt ein bisschen weniger. Ich habe mich ein bisschen eingelebt. Manches erreicht einen einfach anders als früher, und die meisten Räusche hinterlassen Kater und ich suche vermutlich einfach keine Räusche mehr, ich suche den Fluss und die Verbindung zu mir. BLEIB BEI DIR steht im Atelier auf dem gewebten Bild vom Freundi, aber was steht auf dem anderen? Ich lese dich, glaube ich.
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wir fuhren durch eine morgenwolke
wir fuhren ganz langsam die kurven hinunter
wir fuhren am fluss entlang durch das tal
wir fuhren durch ein anderes tal
wir fuhren durch ein breiteres tal und die supermärkte wurden größer
wir fuhren weiter und die berge wurden flacher und die werbetafeln häufiger
wir fuhren weiter und auf eine flache anhöhe und schauten auf die berge bereits in der ferne
wir fuhren weiter und durch eine ortschaft und durch eine weitere
wir fuhren auf die bundesstraße
wir fuhren auf die autobahn
EXPERIMENTEDas Experiment für den Herbst: Den Kleinkram und die Kommunikation zuerst machen, damit morgens die Nachtbefleckung abschütteln, mir damit Luft und Raum für die anderen Dinge schaffen, mich also nicht mehr jagen lassen von der Lebensorga, ob das gelingt! Wir werden sehen.
FABRIK (Ein neu entstandener Schnipsel aus meinem Text mit dem Arbeitstitel „Die Fabrik“)Baby
wir wollen mit dir kriechen
du ziehst alles aus und wir ziehen alles aus
und wie die Tierchen klettern wir
durch den Brombeerring
Ali führt uns hinein
hält uns und singt für uns
und Ali führt uns hinaus
und am übernächsten Tag
wenn deine Kratzer gut leuchten
gut sichtbar sind
hält Jott sie alle fest
tätowiert einen
blutroten Schatten neben
den blutroten Kratzer
die Spuren
unseres Gangs
für immer frisch an dir
also dein für immer
für so lange
wie du für immer
bist
VERFLECHTUNGEN
Nach meinem Salbeibad fand ich dieses Gedicht von Barbara Juch wieder:
um mein elternhaus wächst kein weiches gras um mein elternhaus wächst wilder thymian
das war schon imma so
und imma schon legte ich mich hinein und imma schon fühlte er sich an wie schmirgelpapier
das schliff mir meine träume glatt
warum hab ich das schon so lang nicht mehr gemacht und warum legt sich meine schwester nicht zu mir dazu und warum sollte etwas, das du schon imma kanntest nicht das schönste sein, das du noch heute kennst
Und das Buch von Anke Stelling, das ich im Urlaub gelesen habe, war Schäfchen im Trockenen, und es hat mich sehr begeistert, weil Mutterschaft so großartig weit und widersprüchlich darin angeschaut wird und weil ich selten so präzise und gleichzeitig persönlich über Klassenthemen in Deutschland gelesen habe.
Hier ein Auszug: Verstehen ist ein äußerst wirksames Betäubungsmittel für hungrige, schmerzende Herzen, viel besser als Wut, weil die Wut irgendwann einen Ausbruch braucht, wenn man nicht ersticken oder platzen will an ihr, und wer weiß: Am Ende trifft sie noch den Falschen oder war von vornherein überzogen, unberechtigt gar. Auf jeden Fall ist sie riskant, weil sie laut ist und within sichtbar. Wer wütend wird, ist schon zum Opfer geworden, wer versteht, hat sich selbst in der Hand. (…) Wenn meine Mutter nur im Ansatz ihre eigene Anwältin gewesen wäre - anstatt durch Plädoyers und Verständnis für die Gegenseite ihren eigenen Schmerz zu betäuben - dann hätte ich als Kind vielleicht eine Chance gehabt, sie zu verstehen. Doch sie war kein Opfer, nein, sie brauchte keinen Anwalt, konnte ihre Emotionen aus jeder ihrer Geschichten raushalten und sich ausschließlich um die der anderen kümmern. Das ist falsch, Bea.
Dann habe ich noch einen Essay von ihr gelesen, den sie endet mit: Als Künstlerin ist das Politischste, was ich tun kann, den Kern meiner Arbeit zu beschützen. Mein Fühlenkönnen. Dass mich die Welt interessiert.
Was alles in meine Sorge um eine mögliche Gefühlsgedämpftheit (die ja vermutlich oft vor allem Müdigkeit ist) hinein spielte, und mich darin aufrüttelte, und mir hilft, Fragen zu stellen, wie ich das Fühlenkönnen als Kern wirklich beschützen kann, wie das für mich aussieht, was ich dafür verändern muss, was ich dafür nicht mehr tolerieren werde.