Luther als Beispiel für unseren sorglosen Umgang mit historischen Figuren

Über einen anderen Kontext bin ich darüber gestolpert, was für Haltungen Martin Luther (neben dem Ding mit dem Ablasshandel) noch hatte und wie viele seiner Texte ihn als erstaunlich hasserfüllten Menschen zeigen, der zynisch, sadistisch, rasend und gewaltvoll gegen alles „andere“ und alle „anderen“ war.

Das ist etwas, was zwar vermutlich viele Menschen wissen oder ahnen, aber noch lange nicht als Allgemeinwissen gelten kann. Im Gegenteil: Martin Luther wird, so weit ich das erkennen kann, nach wie vor hauptsächlich gefeiert und als sympathischer Rebell gezeichnet, der es der katholischen Kirche gezeigt und damit ein neues Zeitalter eingeläutet hat.

Es gibt (unter anderem) unzählige Straßen, Kirchen und öffentliche Gebäude, die nach ihm benannt sind, Briefmarken und Gedenkmünzen mit seiner Abbildung, Gedenktage, eine gesamte Jubeldekade, ohne Ende Bücher, mehrere Spiel- und Fernsehfilme, Kleidungsstücke und sogar eine Pflanzengattung, die nach ihm benannt ist. Ein solcher Celebrity Kult macht für historische Figuren aus meiner Sicht genau so wenig Sinn wie für lebende.

Ich bin Laie, sowohl geschichtlich als auch kirchlich, und kann somit nicht unterscheiden, welche seiner Aussagen genau wie im historischen Kontext einzuordnen sind, ob er nun antisemitisch oder „nur“ Antijudaist war, ob er nur gegen Hexen wetterte oder auch selber welche verbrennen ließ, ob seine Unfähigkeit, mit Andersdenkenden in einen Dialog zu treten, tatsächlich nur Zitat des Historikers Heinz Schilling, gefunden hierdie dunkle Kehrseite von Luthers prophetischer Selbstsicherheit“ ist.

Luther eignet sich – trotz all seiner unbestreitbaren Verdienste – nicht dazu, als Vorbild einer modernen Kirche zu dienen. Er steht für den intoleranten antisemitischen Ungeist des Christentums in seiner schmutzigsten und gleichzeitig wirkmächtigsten Erscheinungsform. Eine Kirche, die im Land des Holocaust moralische Instanz sein will, muss sich davon distanzieren.“ – Bernd Kammermeier in dem Artikel „Warum Martin Luther ein Antisemit istWas ich aber sehr deutlich erkenne, ist wie sorglos und kapitalschlagend mit der historischen Figur Luther umgegangen wird und wie wenig Bereitschaft, die kritischen Seiten seines Wirkens aufzuarbeiten, die Beteiligten haben – weder die evangelische Kirche, noch die Medien (und vor allem nicht die öffentlich-rechtlichen Programme), noch die Förderprogramme von Bund und Ländern sowie die touristischen Verbände.

Anders gesagt: Solange das Dieses Video zeigt Ausschnitte des erwähnten Spektakels, mit einer satirischen Ergänzung von Jan Böhmermann; ich bin zwar kein Fan von Böhmermann und finde auch diesen Auftritt nur halb überzeugend, aber es zeigt sehr eindringlich auf, was für absurde Ausmaße der Starkult um Luther angenommen hat. Sehr nah fühlte ich mich der Person, die zu diesem Video kommentierte, sowohl auf die eigentliche Show als auf die Satire bezogen: Ich schaudere und wünschte ich wäre ein Stein.ZDF Luther-Musical-Spektakel veranstaltet mit Tausenden von Sänger:innen, die beschwörend seinen Namen wiederholen, ohne dabei auch nur anzudeuten, dass dieser umjubelte Mensch auch eindeutig kritische Seiten hat, die nach wie vor gesellschaftlich relevant für uns sind – solange bin ich schlichtweg nicht bereit, mich auf historische Haarspaltereien einzulassen.

Was Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern.“ – Karl Jaspers in „Philosophie und Welt“, 1958, S. 162Ich staune (wieder mal), wie viel historisch entschuldigt werden kann und frage mich: Wer profitiert hiervon? Da fallen mir schnell einige ein: Die evangelische Kirche, weil sie eine beliebte Figur ihr eigen nennen können, viele einzelne Ortschaften, weil sie touristische Sehenswürdigkeiten aus ihren Lutherstätten machen können, die Unterhaltungsindustrie, weil sie schön dramatischen Stoff für ihre Filme und TV-Serien haben. Aber, und das finde ich noch viel problematischer, es profitieren eben auch heute noch deutschnationale Gruppierungen von diesem naiven Umjubeln von Luther, das kein bisschen markiert, wie entmenschlichend seine Haltungen waren.

Für alle, die mitstaunen wollen, hier ein paar Originalzitate aus Luthers Texten und Reden zu den Themen Judenhass, Frauenhass und Hexenverbrennungen:

Luthers Siebenpunkte-Programm namens „Von den Juden und ihren Lügen“, veröffentlicht 1543, bestand unter anderem aus der Aufforderung zur Zerstörung von Synagogen und zur Ghettoisierung, forderte Ausgangs- und Berufsverbote und Zwangsarbeit und begann so: aus „Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen“, herausgegeben 2016 von Büchner, Kammermeier, Schlotz und Zwilling, S. 247Erstens, dass man ihre Synagogen oder Schulen anzünde und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und überschütte, so dass kein Mensch für alle Zeiten weder Stein noch Schlacke davon sehe.

In seinen Tischreden ging Luther sogar noch weiter: Martin Luther, Tischreden, Nr. 1795Wenn ich einen Juden taufe, will ich ihn an die Elbbrücke führen, einen Stein an den Hals hängen und ihn hinab stoßen und sagen: Ich taufe dich im Namen Abrahams.

Heftig finde ich vor allem, dass es (wie oben erwähnt) weiterhin historische Haarspaltereien gibt über die Frage, ob nun Luther bereits „antisemitisch“ war, mit der Begründung, dass es damals noch keinen Rassenbegriff gegeben habe und deshalb Luther kein Antisemit sein könne. Aber was macht das für einen Unterschied bei solchen Aussagen, und bei dem Wissen, dass Hitler sich gerne auf ihn berief? (Zum Beispiel mit der Aussage: aus „Der Bolschewismus von Moses bis Lenin - Zwiegespräche zwischen Adolf Hitler und mir“ von Dietrich Eckart, 1923, S. 52Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung, sah den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen.“) Und wie Bernd Kammermeier in diesem Artikel erwähnt, gab es sehr wohl Zeitgenossen von Luther, wie der Nürnberger Theologe Andreas Osiander und der Pforzheimer Jurist und Hebraist Johannes Reuchlin, die „eine deutlich tolerantere Haltung zum Judentum ein[nahmen] – wobei sie als gute Christen nicht dessen Falschheit infrage stellten. Jedoch verteidigten sie das Existenzrecht der Juden und auch das Praktizieren ihrer Religion.

Hier ein paar Eindrücke zu Luthers Verhältnis zu Frauen:

aus „Martin Luther, Werke“, Weimarer Ausgabe Bd. 102, 1907, S. 296Der Tod im Kindbett ist nichts weiter als ein Sterben im edlen Werk und Gehorsam Gottes. Ob die Frauen sich aber auch müde und zuletzt tot tragen, das schadet nichts. Lass sie nur tot tragen, sie sind darum da.

aus „Martin Luther, Von der Ehe“ zitiert nach der Gesamtausgabe von Johann Georg Walch, 1734, 22. Bd., Kap. 43, §16Die größte Ehre, die das Weib hat, ist allemal, dass die Männer durch sie geboren werden.

aus „Colloquia oder Tischreden Doctor Martini Lutheri“ von Lauterbach/Aurifaber, 1593, S. 325 – dieses Zitat bezog sich auf eine ehebrechende Frau, wobei Luther an anderer Stelle den Männern den Rat gab „Will die Frau nicht, so komm’ die Magd!Wenn ich Richter wäre, so wollte ich eine solche französische, giftige Hure rädern und ädern lassen.

aus „Widerrufen kann ich nicht. Die Lebensgeschichte des Martin Luther“ von Arnold Zitelmann, 1997, S. 111Wer mag alle leichtfertigen und abergläubischen Dinge erzählen, welche die Weiber treiben … es ist ihnen von der Mutter Eva angeboren, dass sie sich äffen und trügen lassen. … Eine Frau hat häuslich zu sein, das zeigt ihre Beschaffenheit an; Frauen haben nämlich einen breiten Arsch und weite Hüften, dass sie sollen stille sitzen.

Zu den Hexen: Auch hier gibt es ein Hin und Her in Fachkreisen, ob Luther zu dem Massenverbrechen der Hexenverfolgungen in den darauffolgenden Jahren beigetragen hat oder nicht – es spricht anscheinend einiges dafür, dass Luther zwar an Hexen glaubte und sie in seinen an das Volk gewandten Tischreden verdammte, er allerdings aus theologischen Gründen ein Gegner großangelegter Hexenverfolgungen war und keinen direkten Mord zu verantworten hat. Einige Historiker:innen sind dennoch der Auffassung, dass aus „Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen“, Dissertation von Jörg Haustein, 1990, S. 127die enorme Vergrößerung des Kreises der potentiellen Angeklagten durch die Kriminalisierung des Aberglaubens ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu den epidemischen Hexenverfolgungen der kommenden Jahrzehnte“ gewesen sei.

Auch hier bin ich allerdings wenig bereit, über diese Einschätzungen im Detail zu sprechen, wenn nicht im Großen anerkannt wird, dass es so oder so höchst problematische Aussagen sind – vor allem in Verbindung mit dem oben aufgezeigten Frauenhass.

Hier Auszüge aus den Predigten Luthers:

Martin Luther 1516 in einer Predigt zu den zehn Geboten, gefunden in der Dissertation „Die Schattenseiten der Reformation: Martin Luther und die „Feinde des Evangeliums“ – aufarbeitende und vergleichende Betrachtung einer Animosität im Auftrag Gottes“ von Christoph Klein, S. 140Wenn nun jemandes Frau oder Knecht schreien sollte, sie hätte einen solchen Geist zum Wallfahrten überkommen, so höre mein Rath: so nimm auch du ein gutes eichenes Marterholz (crucem) und heilige ihren Rücken mit etlichen kräftigen Schlägen, und du wirst sehen, daß durch diesen Finger Gottes jener Teufel ausgetrieben wird. Da die Weiber leicht zu verführen sind, so pflegt er sie am häufigsten durch diese Possen zu betrügen

Martin Luther am 6. Mai 1526 in einer Predigt über das zweite Buch Mose 22,17 – in dieser Predigt wird insgesamt fünf Mal dazu aufgefordert, Hexen zu tötenDie Zauberinnen sollen getötet werden, weil sie Diebe sind, Ehebrecher, Räuber, Mörder … Sie schaden mannigfaltig. Also sollen sie getötet werden, nicht allein weil sie schaden, sondern auch, weil sie Umgang mit dem Satan haben.

Tischrede von Martin Luther am 25. August 1538Mit Hexen muss man kein Mitleid haben; ich wollte sie selber verbrennen.

Martin Luther 1538, ebenfalls gefunden in der Dissertation von Christoph Klein – hier bezieht sich Luther auf das Fallbeispiel „des „bezauberten Mägdleins“, welches, von einer Zauberin verhext, blutige Tränen vergossDa sollte man mit solchen zu Gericht [zur Strafe] eilen. Die Juristen wollen zu viel Zeugnisse haben, verachten diese offenbaren [Tatsachen]

Tischpredigt Martin Luther„(…) welche man bei den Christen heißt Teufelshuren, und wo man sie kriegt, mit Feuer verbrennet, wie recht ist, nicht um des Milchdiebstahls, sondern um der Lästerung willen“

In der Broschüre Martin Luther 500 Jahre nach dem Thesenanschlag – Abgründe des Reformators (PDF) wird auch zu diesem Thema der interessante Vergleich mit einem Zeitgenossen von Luther aufgemacht:

Wie anders verhielt sich da der Zeitgenosse Erasmus von Rotterdam (1466–1536), ebenfalls Professor der Theologie, der den „Hexenhammer“ öffentlich kritisierte und über die Dummheit der Inquisitoren spottete.

Und zum Abschluss: Martin Luther, Gesamtausgabe in 25 Bänden, herausgegeben 1880–1910 von Walch, Band V, S. 452Wer […] Christ sein will, der […] steche seiner Vernunft die Augen aus.“ – das klingt in diesem Kontext ziemlich passend.