Helfen

Sie nimmt in der Warteschlange am ersten Tag fest meine Hand, vielleicht um sich zu trösten, vielleicht um meine Hand zu wärmen. Ihre Hand ist alt und kräftig und es bleibt unklar, wer wen hält.

Hier geht nichts nur in eine Richtung. Die Hand, die ich Menschen in Notsituationen reiche, ist die Hand, die ich meinen eigenen Ur-Ängsten reiche.

Ich notiere: Füreinander zu sorgen, auch wenn man sich noch nicht kennt, wenn man weder blutsverwandt noch verliebt ineinander ist, ist eine Erinnerung daran, dass wir alle zu dieser Welt gehören. Mich interessiert immer mehr dieses Gefühl von grundsätzlicher, bedingungsloser Zugehörigkeit, und die Möglichkeiten, Fragen und Reibungen, die daraus entstehen können.

In der Realität ist Fürsorgearbeit oft vor allem viel Warten, viel Bürokratie, viel Praxis. Verwirrende Mißverständnisse in der Übersetzungs-App neben sehr schönen sprachlichen Neuschöpfungen. Wände streichen und Müll rausschleppen. Dankbarkeit für die kleinen schönen Momente, für das Mitwippen zur Musik beim gemeinsamen Essen, für den blühenden Kastanienzweig. Menschen, die kleine Kinder betreuen, kennen diese Mischung vermutlich nur zu genau.

Es ist viel Knirschen, mehr in mir als im Äußeren. Eine Person, die aus einem Kriegsgebiet geflohen ist und bei mir unterkommt, schuldet mir keine „schönen kleinen Momente“. Ich bin mittendrin in diesem Geschehen, in dieser ungleichen Machtverteilung, ich kann mich nicht aus dieser Gleichung heraus nehmen. Auch meine Gastfreundschaft ist vielleicht Paul B. Preciado in Ein Apartment auf dem Uranusdoch nur die (mehr oder weniger gewaltsame) Neuaushandlung der Grenzverläufe. Ich kann theoretisch jederzeit sagen „bis hierhin und nicht weiter, jetzt ist es vorbei, jetzt musst du raus“. Damit bleibe ich eine potentielle Gefahr, egal wie viel Vertrauen wir sonst geknüpft haben.

Selbst der von mir gewählte Begriff „Gast“, mit dem ich versuche, respekt- und würdevoll zu sein, verschleiert die Tatsache, dass – egal wie gut es ihr bei mir geht – diese Person nicht freiwillig bei mir zu Besuch ist.

Ich versuche, die Struktur nicht aus den Augen zu verlieren und gleichzeitig die Beziehung in den Mittelpunkt zu stellen. Die beiden Menschen zu sehen, die täglich viel Zeit in den gleichen Räumen verbringen, und beider Bedürfnisse und Wünsche, und die Unterschiede in diesen Bedürfnissen und ihren Gewichtungen.

Ich versuche, in diese Beziehung hineinzugehen wie in jede andere Beziehung, die mir wichtig ist: mit der Bereitschaft, mich verändern zu lassen.


siehe auch Positionierungs-Aktionismus