Sichtbarkeitskater
Bei Brené Brown auch bekannt als „Vulnerability Hangover“, also Verwundbarkeitskater.Ein Sichtbarkeitskater ist die wilde Mischung aus Gefühlen, nachdem mensch mehr als sonst von sich gezeigt hat. Das kann zum Beispiel nach einem verletzlichen Gespräch oder einer neuen Begegnung sein, oder nach der Veröffentlichung einer Website oder eines Buches oder eines Newsletters oder eines Posts, oder nach einem Auftritt wie einer Lesung oder einem Konzert.
Ein Sichtbarkeitskater bringt Fragen und Verunsicherungen und Herausforderungen mit sich, Müdigkeit; bei mir oft auch richtig Kopfschmerzen.
Das Gefühl dazu ist: Ich wurde / werde SO SEHR GESEHEN. Das kann sich wund anfühlen oder nackt oder kratzig oder oder oder …
Danach braucht es zum Beispiel:
Ausnüchterung, Höhlenwetter, nicht gesehen und nicht gehört werden, außer von mir selber. Drin bleiben. (Was für eine tiefe Ruhe und Erholung ich aus dem Gedanken ziehen kann, dass ich heute niemanden mehr treffen werde.)
Nachwirken lassen, spüren wie schön das alles war, wie viel Kraft das gekostet und gegeben hat, welche Momente wieder auftauchen.
Alle Scham-Möglichkeiten noch einmal durchspielen. Und sie dann idealerweise los lassen.
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Nach der Veröffentlichung der Heinis 2019 (nach meiner allerersten Buch-Veröffentlichung also), hatte ich großen Sichtbarkeitskater. Ich schrieb damals:
Meine erste Lesung aus dem Buch ließ mich mit einigen Fragen zurück: Wie kann ich das, was ich hier erreicht habe, stimmig feiern? Wie feiert man ein Buch? Wie feiert man überhaupt einen Erfolg? Wie feiere ich einen Erfolg? Ist das hier ein Erfolg?
Und: Wie kann ich auf mich aufpassen in der Rohheit und Verletzlichkeit, die unweigerlich auf eine solche Öffnung folgt?
Spannend fand ich überhaupt mein Bedürfnis nach einer Feier, nach einem Kundtun meiner eigenen Freude, das hatte ich gar nicht richtig erwartet oder mir zugestanden. Aber eigentlich ist genau das doch wichtig: Innehalten und mir von den Menschen um mich bezeugen lassen, dass da jetzt etwas steht, dass ich etwas geschafft habe.
Gleichzeitig wirft das die nächsten Fragen auf: An wessen sensiblen Themen rüttele ich mit meiner Sichtbarkeit, mit meinem „Erfolg“? Wer kann sich mit mir freuen und feiert mit mir diesen Schritt, ohne eigene Themen rund um Sichtbarkeit und Erfolg dabei in den Vordergrund zu stellen? Wie gehe ich damit um, wenn ich merke, dass sich jemand freuen will, es aber einfach nicht kann?
Mit wem freue ich mich, wessen Erfolge feiere ich?
Es kann weder die Lösung sein, über die Themen unserer Freund:innen hinweg unsere Freude gewaltsam zu platzieren, noch auf unsere Freude und ein Feiern unseres Erfolges zu verzichten, um andere Menschen zu „schonen“.
Eine neue Qualität in Freund:innen und Bekannten wird darin sichtbar: Die Fähigkeit, neidlos und voll echter Freude den Erfolg einer anderen Person zu feiern. Und die Fähigkeit, die Freude und Erleichterung nach einem eventuell schwierigen und auf jeden Fall transformativem Prozess überhaupt bei sich selber und anderen zu sehen und zu würdigen.
Und das ist etwas, was ich aus diesem Prozess lerne: Sensibler zu sein für das Feierbedürfnis anderer. Was für ein wichtiger Moment das ist, wenn man aus seiner eigenen Schale ein Stück heraus gekrochen ist.
Mein Feiermoment kam dann entkoppelt von dieser ersten Lesung, ein paar Tage später auf einer Party im Literaturinstitut, auf der ich eine solche Lust hatte zu tanzen wie schon lange nicht mehr. Und die Musik war komisch und ich eigentlich schon übermüdet, aber das machte nichts, ich habe getanzt und war da und voller Freude, trotz und mit allen offenen Fragen.
Und nach der Party kommt natürlich der eigentliche Kater … Wenn die Ruhe wieder einkehrt und alles in mir langsam an Ort und Stelle sinkt. Wenn ich spüre: Aha, ich bin anders geworden. Etwas hat sich verschoben, etwas fühlt sich neu an.
Das ist dann ein guter Zeitpunkt, um sich wieder herzustellen. Um sehr sehr zart mit sich zu sein.
Es ist eine Verschiebung in meiner Identität, jetzt ein Buch veröffentlicht zu haben. Verschiebungen sind ultrawichtig, das ist die Bewegung, die wir suchen und die uns voran bringt.
Wir kommen da hin durch tausend kleine Schritte, von der Bereitschaft, überhaupt anzufangen bis zu der Umsetzung und all den täglichen Überlegungen und Übungen und Schritten dazwischen. Das ist kein Übernachtprozess, die gibt es eh kaum.
Genau deshalb kann der erste Moment der Sichtbarkeit wichtig und besonders sein, und braucht vielleicht besonderen Umgang.
Your new-found power is not afraid of your learning curve. It’s here to stay. – Danielle LaporteIch putze oft in solchen Momente, also so ein Trödelputzen. Restoratives Aufräumen. Ich mache langsam, ultra langsam, mit meinen Terminen, mit meinem Sportprogramm, mit den Anforderungen an mich. Ich schreibe Tagebuch und telefoniere und spaziere. Ich esse viel und schaue ziellos aus dem Fenster und collagiere und kritzele und so weiter. Ich gebe mir Raum, damit die Veränderung, die Verschiebung, in mir ankommen und bleiben kann.