Tagebuch schreiben

Endlosthema, mein Dauerding, eines der ganz wenigen Praktiken, um die mein Leben wirklich schon seit Jahrzehnten stabil kreist, wenn nicht die einzige; ich als ein Mensch, der ansonsten sehr viel beginnt, aufhört, wieder aufgreift, wieder aufhört, Phasen, Zyklen, Spiralen; dieses Tagebuch schreiben ist, seit ich 13 bin, in irgendeiner Form immer dabei.

Mein Tagebuch ist eine PAZ.

Es ist ein Raum, an dem ich mich hören kann, oft besser als in der Gegenwart anderer Menschen.

Mein Tagebuch-Schreiben ist eine Sucht, eine tägliche Weltbewältigung, ohne die ich nicht klarkommen würde, es ist fast nie Frage, ob ich schreibe, ich musste mich kaum jemals dazu überwinden, es ist für mich einfach die selbstverständlichste und nötigste Art und Weise, Erlebnisse und Gefühle zu verarbeiten. Die große Frage ist für mich also nicht, warum Tagebuch schreiben oder wie, das passiert immer eher von selbst und verändert sich mit meinen Bedürfnissen. Zum Beispiel schwenkte ich 2008 um von handgeschriebenen Büchern, in die ich auch zeichnete und collagierte, aber immer mehr vor allem schrieb, zu digitalen, backupbaren, durchsuchbaren, lesbaren Einträgen auf dem Computer. Dazu phasenweise Morgenseiten von Hand, und all die Notizbücher, und dann wieder zurück zu Zeichentagebüchern, eine Zeitlang statt der Computertexte, dann ergänzend, dann löchrig.

Die große Frage ist für mich eher: Was mache ich mit all diesem Text, mit dem Schrank voller Bücher, mit den endlosen Dateien? Ist das Material und wenn ja, für was?

Will ich das nochmal durchgehen, kann ich das überhaupt, also psychisch, aber auch praktisch, im Sinne von: kann ich meine Schrift denn noch entziffern? Woher nähme ich denn reell die Zeit, um all diese Tagebücher eventuell durchzugehen – und wofür würde ich das tun?

(Eine Zeitlang die Vorstellung gehabt, dass ich irgendwann mal eine lange Weile im Krankenhaus liegen muss, vielleicht mit einem kompliziert gebrochenen Bein, und auf einmal ganz viel Zeit habe, und damit dann alle meine analogen Tagebücher abtippen würde. Ha! Haha! LOL! Als ob ich mich dann mit meinen Teenie-Qualen beschäftigen wollen würde!)

Und manchmal tue ich es dann doch, einmal mit fast vierzig war ich nächtelang nochmal 17, nochmal 18, nochmal 19 und 20. Und es waren nicht nur Qualen.

Und einmal habe ich Tagebuchauszüge verdichtet und Texte daraus gemacht, die die Tante Alles überhaupt erst wirklich vollständig machten.

Und ich lerne: Es ist für mich einfacher, Zeichentagebücher und analoge Tagebücher in einem bestimmten Zeitabschnitt, zum Beispiel zum Ende eines Jahres, durchzugehen, als digitale Texttagebücher. Das liegt daran, dass die Zeichen- und analogen Tagebücher mehr Textur haben, und meist nicht ganz so ausufernd sind; da kann ich dann schneller ein Gefühl von einer Stimmung bekommen, muss nicht alles nochmal durchdenken.

Tagebuch ist auch einfach Arbeit, emotionale Arbeit für einen selber, aber auch für die hat man vielleicht nicht immer die Kapazität. So geht es mir mit dem Zeichentagebuch zurzeit, das ist mir als Praxis noch nicht wieder so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass es einfach fließen würde, sondern es ist jedes Mal ein Moment Arbeit, mich hinzusetzen und das Heft zu öffnen und los zu zeichnen oder zu malen. Microdrawing hier vielleicht auch als Antwort ausprobieren, mir darum ein Experiment gestalten.

Und die Fragen nach therapeutischem Tagebuchschreiben, und nach einem eventuell überdeckenden, also was, wenn zu viel Blitz abgeleitet wurde? Bei mir auf jeden Fall Thema, ich würde andere Forderungen in die Welt stellen und einen anderen Ärger parat haben, wenn ich nicht so viel schreiben und in mir verarbeiten würde. Und gleichzeitig ist wahr, dass die Widersprüche auch einen Platz brauchen, also die Wut einem manchmal Dinge einflüstert, hinter denen man gar nicht so auf Dauer steht.


siehe auch digitales Gärtnern, autobiographisches Schreiben, Pilztagebuch, Selbstmythisierung, Scham und eine Sprache für Gefühle finden