Skizze für einen vertrauensvollen Raum

Je mehr Workshops, offene Telkos und Gruppenräume ich gemeinsam mit anderen ins Leben rufe und halte, umso mehr Gedanken mache ich mir darüber, was für Orte das werden.

Wer nimmt Teil, wer kann und will teilnehmen? Wie ermöglichen wir mehr Zugang für Menschen, die auf den verschiedensten Ebenen im Moment oder dauerhaft nicht die Ressourcen dafür haben (zum Beispiel zeitlich, finanziell, körperlich, emotional)?

Wer fühlt sich sicher in diesen Räumen, wer spricht dort mit Überzeugung, wer teilt dort Arbeit, Gedanken, Prozesse? Wer hat in diesen Räumen das Gefühl, gehalten und gestützt zu werden, falls ihm:ihr dort etwas zustößt? Wer macht sich überhaupt keine Gedanken darüber, ob ihm:ihr etwas zustoßen könnte?

Was nehmen wir als Initiator:innen als unsere Verantwortung wahr, für welches Maß an Sicherheit wollen und können wir realistisch sorgen? Welche Faktoren sind außerhalb unserer Reichweite? Was stellen wir als harte Regeln auf und was leben wir einfach vor?

Wie viel Zeit planen wir bewusst für diese Prozesse ein, wie viel Raum darf der Raum selber bekommen?

Diese Gegenöffentlichkeiten dienen zwei Zwecken: Erstens bieten sie Gruppen Räume, in denen sie sich ausruhen, sammeln und neue Strategien und Begriffe für den Widerstand entwickeln können. Zweitens macht das Vorhandensein dieser Gegenöffentlichkeiten kollektive und individuelle Traumata sichtbar, die neoliberale Erzählungen von individueller Widerstandsfähigkeit durchkreuzen.“ – Chris Waugh, aus In Defence of Safe Spaces: Subaltern Counterpublics and Vulnerable Politics in the Neoliberal University, Übersetzung von mirDiese Orte, die wir schaffen, sind keine „Safe Spaces“. Ein Safe Space ist für mich ein geschützter und nach außen abgegrenzter Ort, an dem marginalisierte Menschen zusammenkommen können, um sich auszutauschen und zu erholen von ihrem sonstigen Umfeld, in dem sie ständig wachsam sein müssen, um sich selber zu schützen. Ich halte Safe Spaces für extrem wichtige Orte, die vor allem von denjenigen lächerlich gemacht werden, die nicht die Fantasie besitzen, sich vorstellen zu können, dass andere Menschen andere Erfahrungen in der Welt machen als sie selber.

Gleichzeitig sind die Räume, die ich bisher schaffe, keine in diesem Sinne sicheren Räume. Sie richten sich nicht an eine bestimmte marginalisierte Gruppe, sondern an eine möglichst bunt gemischte Gruppe von Menschen, die alle unterschiedliche Erfahrungen und Erwartungen mitbringen. Daher können wir zum Beispiel nicht wissen, wer welche Begriffe kennt oder wer in welcher Verfassung teilnimmt, und damit auch nicht garantieren, dass sich jede Person immer wirklich sicher fühlt.

„Etwas teilen zu wollen ist ein Zeichen von Vertrauen, oder dem Wunsch, vertrauen zu wollen. Viel zu lange dachte ich, dass man nur auf Fragen antwortet. Aber man kann ja auch von sich aus etwas in den Raum stellen: Hier ist etwas.“ – aus dem Brief N° 3 Stattdessen will ich und wollen wir vertrauensvolle Räume schaffen, in denen sich die Teilnehmenden gemeinschaftlich dazu verpflichten, bestimmte Prinzipien einzuhalten. Damit wollen wir die Möglichkeit schaffen, dass alle Teilnehmenden (also auch wir) sich möglichst offen zeigen und möglichst viel voneinander lernen können. Dass wir uns laufend neugierige, vielschichtige, komplexe Fragen stellen können. Uns ist dabei klar, dass wir nicht alle Verletzungen verhindern können, die in diesem Raum vielleicht passieren, und wir wollen so gut es geht dafür sorgen, dass wir als Gruppe gemeinsam diese Erschütterungen aushalten und die betroffenen Personen wieder stärken und unterstützen können.

Wir wollen also eine gelebte Praxis mit Reibungen, die Bewegung und Veränderung ermöglichen, und mit größtmöglicher Sicherheit vor allem für die Menschen, die sich eh schon immer schützen müssen.

Diese Skizze ist stark inspiriert von Dawn Serra und Helena Liu, die mich zu den Gedanken von Hanalei Ramos zum Principled Space geführt hat.Das sind die Prinzipien, mit denen ich und wir derzeit arbeiten und Gruppenräume halten:

We agree to value the viewpoints of other people that do not challenge or conflict with our right to exist.“ – McKensie Mack1 – Wir gehören alle dazu und haben alle das Recht, hier zu sein, zu sprechen und gehört zu werden. Wir hören uns gegenseitig respektvoll zu, ohne einander zu unterbrechen. Wir sprechen hier (so gut es geht) unsere Wahrheit und Erfahrung und bezeugen (so gut es geht) die Wahrheit und Erfahrung der anderen.

2 – Wir geben ausschließlich dann Ratschläge und Feedback, wenn wir darum gebeten werden. Wir spiegeln zurück, was sich für uns wichtig und interessant anfühlt, ohne dabei zu werten. Wir stellen uns mehr liebevolle Fragen, als dass wir uns Handlungsempfehlungen geben.

Sanctuary is a space where you are heard, believed, and companioned, without interference and assumption of superior insight.“ – Isabel Abbott3 – Wir nehmen uns gegenseitig ernst und glauben einander. Wir vertrauen unserer Wahrheit und der Wahrheit der anderen, ohne dass wir hier alle die exakt gleiche Erfahrung machen müssten. Wir bemühen uns gegenseitig zu verstehen, was die anderen bisher erfahren haben und wie das ihre Gründe für die Teilnahme und ihre Erwartungen an diesen Raum formt.

4 – Wir behalten unsere eigenen Privilegien im Blick, auch wenn das schmerzhaft ist und bedeuten kann, dass wir uns zurücknehmen und auf etwas (zum Beispiel Redezeit) verzichten müssen. Das bezieht sich auf alle Privilegien, insbesonders (da erfahrungsgemäß am stärksten wirksam in Gruppendynamiken) auf Aussehen, Geschlecht und Klasse. Das hier sind keine Räume, in denen automatisch weiße männliche Akademiker die Stimmung und die Themen setzen.

5 – Wir begrüßen gemeinsam, dass intensive Gruppenprozesse auch Gefühle von Unsicherheit und Unwohlsein aufploppen lassen können. Das ist völlig in Ordnung und auch diese Gefühle sind willkommen und können thematisiert werden. Hier geht es weniger um fertige Antworten und mehr darum, über das gemeinsame Fragen Verbindung zu finden.

6 – Wir können immer frei entscheiden, was wir wann in diesen Gruppenprozessen brauchen – wann wir eine Pause brauchen, wann wir Bewegung oder Essen brauchen, wann wir unser Videobild an- und wann wir es ausschalten wollen, wann wir etwas teilen oder bei etwas mitmachen wollen. Wir können uns alle jederzeit rausziehen und respektieren es, wenn sich andere rausziehen. Kein Mensch muss hier „gute Teilnahme“ performen.

7 – Wir erkennen an, dass unsere Körper unterschiedlich sind und unterschiedliche Dinge brauchen. Auch wenn wir vielleicht genau wissen, was für unseren Körper immer super funktioniert: Wir können nicht wissen, mit welchen psychischen und physischen Themen die anderen Teilnehmenden zu tun haben und geben deshalb zum Beispiel Gesundheits-Tipps oder Ernährungsempfehlungen ausschließlich in Zweiergesprächen und nur dann, wenn wir explizit dazu aufgefordert werden.

8 – Wir gehen vertrauensvoll miteinander um. Wir nehmen abstrakte Konzepte, Ideen und Fragen mit hinaus in die Welt, arbeiten weiter mit ihnen und teilen sie mit anderen, und persönliche Geschichten und Erlebnisse bleiben strikt in diesen Gruppenräumen.

Kurz nachdem ich diese Prinzipien geschrieben habe, kam dieses englischsprachige Manifest (PDF) von PressPress zu mir – ein Poster zum Thema „Sanctuary“ (Schutzraum) mit vielen ergänzenden und dazugehörigen Facetten, die ich gerne noch einflechten will, unter anderem dieser Punkt: We can protect sanctuary by creating a pluralistic social contract of values and idea to which we all agree. We can protect sanctuary by sharing responsibility to sustain the things we value.All das ist herausfordernd, und spannend, und wird bestimmt noch weiter wachsen und sich verändern. Und es fühlt sich oft so an wie die wichtigste Arbeit, die wir gerade machen können: Wir leben hier in der Praxis, konkret und um Sachen ringend, ein anderes, weicheres Modell von Gesellschaft und Gemeinschaft vor. Das darf ruckeln und sich reiben, das bleibt extrem wertvoll.


siehe auch online Treffen brauchen Zeit und Stille